Stell dir vor, es tobt der Zweite Weltkrieg und du merkst es nicht. Stell dir vor, du wirst Augenzeuge des größten Verbrechens an der Menschheit, ohne es zu wissen. Stell dir vor, du siehst die Schrecken der Nazi-Zeit durch die Augen eines Kindes. Eine Filmkritik zu „Der Junge im gestreiften Pyjama“
Die Rede ist vom britisch-amerikanischen Drama „Der Junge im gestreiften Pyjama“(2009). Es entstand unter der Regie von Mark Herman („Brassed Off!“) und ist eine Verfilmung des gleichnamigen Buches von John Boyne. Wie eingangs, erwähnt handelt der Film von Nazi-Deutschland und dem Holocaust. Wie seine Bestseller-Buchvorlage, wurde er weltweit von der Presse als neuartiger und innovativer Blick auf die Thematik gefeiert. Doch ist die Disney-Produktion mit niedrigem Budget in ihrer Kategorie tatsächlich das beste, was es seit „Schindlers Liste“ und „Das Leben ist schön“ gab (FAZ)[1]?
Handlung:

Der achtjährige Bruno (Asa Butterfield) lebt mit seiner Familie im Berlin der Nazi-Zeit. Es herrscht der Zweite Weltkrieg, doch der Alltag in der Hauptstadt scheint unberührt weiter zu laufen.
Als Bruno eines Tages vom Spielen nach Hause kommt, offenbart sein Vater der Familie, dass er befördert worden sei und sie umziehen müssten.
Daraufhin zieht Brunos Familie aus Berlin in ein Landhaus „im Osten“ (Polen), das mitten im Wald zu liegen scheint. Was Bruno nicht ahnt: Sein Vater (gespielt von David Thewils; Prof. Lupin, „Harry Potter“) übernimmt dort die oberste Leitung eines Konzentrationslagers: Es ist der Konzentrations- und Vernichtungslagerkomplex Auschwitz-Birkenau.
Die Familie lebt von da an von der Außenwelt abgeschottet. Bruno und seine zwölfjährige Schwester Gretel (Amber Beattie), mit der er sich nicht gut versteht, sind die einzigen Kinder im Haus. Von seinem Zimmer aus entdeckt Bruno schnell einen „Bauernhof“ auf dem „merkwürdige Bauern“ leben, die alle in „Pyjamas“ gekleidet sind.
Freundschaft jenseits des Zauns

Seine Eltern verbieten Bruno im Wald hinterm Haus zu spielen. Als dieser trotzdem dort auf Entdeckungstour geht, stößt er plötzlich auf den Zaun des vermeintlichen Bauernhofes. Dort entdeckt er endlich einen gleichaltrigen Jungen. Es ist der Jude Schmuel (Zac Matton O’Brian), der mit seiner Familie deportiert und in das Konzentrationslager gebracht wurde. Schnell entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den beiden. Bruno versorgt seinen neuen Freund mit Essen und sie spielen miteinander Fußball oder Schach, immer bis der nächste Pfiff des KZ-Kommandanten ertönt und Schmuel, scheinbar ohne jeglichen Grund, verschwinden muss.
Als der Krieg auch über Deutschland hereinbricht und aus den Schornsteinen beim „Bauernhof“ Auschwitz immer öfter Rauch und Gestank austritt, nimmt die Geschichte eine Wendung: Brunos Eltern geraten in einen Konflikt über die Tätigkeit des Vaters und das Umfeld der Kinder. Der Konflikt zwischen Mutter und Vater eskaliert mit der Zeit zunehmend. Schließlich gerät das Familienidyll im Landhaus mehr und mehr aus den Fugen. Die Handlung des Films spitzt sich am Ende weiter zu und nimmt ein tragisches, unerwartetes Ende.
Einschätzung:
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist kein typischer NS-Film, denn er kommt beinahe ohne Darstellung von Gewalt und Verbrechen aus. Man hat sich hier (glücklicherweise) stringent an den Bestseller von John Boyne gehalten, einer rein fiktionalen Geschichte mit historischem Setting.
Von einem Holocaust-Film würde man die Darstellung von der Alltäglichkeit des Todes und der Brutalität erwarten, doch damit bricht der Film komplett. Der Zuschauer wird an die Perspektive des achtjährigen Bruno gebunden. Durch diese streng personale Erzählperspektive, gepaart mit der Naivität der Figur, entfaltet der Film eine subtile Dynamik: Scheinbar im Vorbeigehen werden die Gräueltaten der Nazis angerissen, nie wird direkt über den Holocaust geredet. Die Welt wird reduziert auf das, was Bruno von ihr wahrnimmt und versteht, was seine Eltern ihn wissen lassen und zumuten wollen. So wirkt der Film, in weiten Teilen eher wie ein Kinder-Abenteuerfilm über die Freundschaft zweier Jungen, statt wie ein Drama rund um Auschwitz.
Quälende Unschuldigkeit
Die Dialoge sind aufgrund ihrer scheinbaren Harmlosigkeit makaber. Erst durch das geschichtliche Hintergrundwissen kann der Zuschauer, anders als Bruno, die bis unter die Haut gehende Angespanntheit der Situation durchdringen. Beispielsweise müsste der Vater als KZ-Kommandant die Rolle des absoluten Bösen, des Antagonisten, einnehmen, jedoch ist er für Bruno „einer von den Guten“. Es ist der Kosmos eines unverdorbenen Kindes.

Letztlich fasst es ein Zitat von Sir John Betjeman (britischer Dichter und Publizist, 1906 – 1984), welches zu Beginn des Films steht, perfekt zusammen:
„Childhood is measured by sounds and smells and sights, before the dark hour of reason grows.“
Ein Ende mit lautlosem Knall
Das Mimenspiel der heilen Parallelwelt, die direkt neben dem Vernichtungslager Auschwitz existiert, schafft es Emotionen hervorzurufen. Dies geschieht gänzlich ohne die übermäßige Darstellung von Gewalt und Brutalität. Dadurch tritt beim Schauen des Films keine Verrohung der Gefühle ein. Er baut sich immer weiter auf, bis er im Finale mit einem lautlosen aber wirkungsvollen Knall zu Ende geht.
Technisch gesehen greift Regisseur Mark Herman auf minimalistische Kamerafahrten und wenige hektische Schnitte zurück, wodurch der Film eine Ruhe ausstrahlt, die auf Grund der Thematik unmöglich scheint. Musik wird sorgsam und passend eingesetzt. Dieser Minimalismus mag zwar ebenfalls dem geringen Budget des Films (ca. 12,5 Mio. US-Dollar) geschuldet sein, passt jedoch sehr gut zum Film und seiner Spannungskurve.

Die Schauspieler bilden ein starkes Kollektiv, jede Rolle wurde passend besetzt, wenngleich dem Film durchaus ein leicht britischer Touch anzumerken ist.
Fazit
„Der Junge im gestreiften Pyjama“ ist ein kleines Meisterwerk geworden. Er bricht mit allen Erwartungen an einen Holocaust-Film und schafft es, ohne Moralanklagen und verrohende Gewaltdarstellungen die Schrecken der Nazi-Verbrechen darzustellen. Dieser Film würde zu Recht von der Presse in eine Reihe mit Filmen wie „Schindlers Liste“ gestellt, denn auch er bringt eine neue Sichtweise auf die Naziverbrechen hervor. Wem das Buch gefallen hat, dem wird diese Adaption zusagen, da die Handlung sinnvoll auf das Medium Film gekürzt und zugespitzt wurde. „Der Junge im gestreiften Pyjama“ lässt die Gedanken- und Gefühlswelt seiner Zuschauer nach seinen 94 min. Spielzeit nicht los. Denn nichts macht betroffener als der Blick eines naiven unschuldigen Kindes, das das Unfassbare einzuordnen versucht
[1] Siehe http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/video-filmkritik-auschwitz-als-fiktion-der-junge-im-gestreiften-pyjama-1105294.html (abgerufen am 18.06.2015)
Bilder:
Alle Bilder sind Screenshots des Films „Der Junge im gestreiften Pyjama“, Mark Herman, 2008.
2 Gedanken zu „Filmkritk: Der Junge im gestreiften Pyjama – Wenn Unschuld betroffen macht“